Bei einer „Transfertagung“ der Technischen Gymnasien aus Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt ging es im November 2017 um den Austausch von Erfahrungen mit dem neuen Leistungskursfach „Ingenieurwissenschaften“. Dieses Fach wurde in Hamburg im Schuljahr 2016/17 für Schüler mit besonderem Interesse am praktischen Einsatz der MINT-Fächer ab Klassenstufe 11 erstmalig angeboten und ist an den beiden Gymnasien der Beruflichen Schule Farmsen und der Staatlichen Gewerbeschule Metalltechnik gut angelaufen.
Die technischen Gymnasien der anderen beiden Bundesländer hatten bereits mehrere Jahre Erfahrung mit dem technikübergreifenden Fach „Ingenieurwissenschaften“ gesammelt, das den Unterricht auf Leistungskursniveau in den bisherigen nur getrennt wählbaren Fächern Bautechnik, Elektrotechnik und Maschinenbau vereint und verbindet.
Die Wahlmöglichkeit nur jeweils eines dieser Fächer als Leistungskurs hatte sich in den Jahren davor als zu speziell herausgestellt. Schüler mussten sich dabei schon im Alter von nur 15 bis 16 Jahren für eines dieser Fächer entscheiden. Vermutlich waren auch deshalb die Anmeldezahlen so sehr heruntergegangen, dass es schwerfiel, für jeden der drei Leistungskurse Bautechnik, E-Technik oder Maschinenbau jeweils ganze Klassen zu füllen.
Die Vereinigung der Fächer zum Fach „Ingenieurwissenschaften“ führt nun einerseits Interessenten an den Ingenieurfächern zu einem ausreichend großen gemeinsamen Leistungskurs zusammen, erhöht aber andererseits offenbar auch die Gesamtzahl der Bewerber, weil sich nun mehr Schüler vorstellen können, im Beruf grundsätzlich etwas mit Ingenieurwissenschaften zu tun zu haben, ohne aber eine spezifische Ingenieurrichtung schon nennen zu können.
Die Zusammenführung der drei Ingenieurwissenschaften zu einem Fach stellt sich allerdings als durchaus nicht trivial heraus. Aus Berichten mehrerer Lehrer der Ingenieurfächer, die im ingenieurfächerübergreifenden Unterricht – je nach Personalausstattung der Schule – nun häufig auch Sachverhalte der zu ihrem Hausfach komplementären Fächer vermitteln müssen, war auf ähnliche Konflikte zu schließen, wie sie als Kommunikationsprobleme zwischen Mathematik, Physik, Chemie, Biologie und Informatik an normalen Gymnasien und auch an den Hochschulen zu beobachten sind. So wie Mathematiklehrer manchmal schwer einzusehen scheinen, dass sie ihre Schüler in Mathematik so ausbilden sollten, dass diese auch als potentielle Nichtmathematiker später vom Mathematikunterricht profitieren können, und auch Vertreter der Naturwissenschaften und der Informatik nicht selten meinen, vorwiegend zukünftige Forscher ihres Faches auszubilden, räumten auf der Tagung nicht wenige Lehrer der Fächer Bau- und E-Technik sowie des Maschinenbaus ein, dass es ihnen schwerfiel, die jeweils anderen beiden Fächer angemessen zu vertreten und ihnen genügend Bedeutung beizumessen. Für den fachfremden Beobachter entstand der Eindruck, dass sie die Wichtigkeit des eigenen Ingenieurfaches für ihre Schutzbefohlenen gern massiv überschätzten und bemüht waren, einen Großteil einer entsprechenden Hochschulausbildung zu vermitteln. Es wurde mehrfach die Meinung zum Ausdruck gebracht, man müsse doch (im eigenen Fach natürlich) eine gewisse Mindesttiefe erreichen. Das erinnerte an den etwas überzogenen Glauben mancher Fachvertreter der Mathematik, man habe die Abiturienten auf ein Mathematikstudium vorzubereiten. Da heute in Hamburg inzwischen 60 Prozent eines Jahrganges das Abitur erhalten, ist dies schon wegen schlicht nicht vorhandener mathematischer Grundleistungsfähigkeit zu vieler Sekundar II–Schüler von vornherein nicht möglich. Über 342.284 Schüler erreichten im Jahr 2015 in Deutschland die Hochschulreife. 26.538 davon begannen ein Studium der Mathematik. Wenn dafür optimistisch die für 2015 gemessene Erfolgsquote von 68 Prozent angenommen wird, werden davon am Ende ca. 18.000 Personen zu Mathematikern. Das sind ca. 5 Prozent der Abiturienten oder im Schnitt ein Schüler pro Klasse.
Wenn die Rate potentieller Maschinenbaustudierender unter den Besucher eines Technischen Gymnasiums vermutlich auch höher als die der zukünftigen Mathematiker an den weiterführenden Schulen sein wird, werden doch im Schnitt jeweils kaum mehr als 30 Prozent in einem der drei Fächer Maschinenbau, E-Technik oder Bauingenieurwesen arbeiten. Einerseits ist die Anzahl der wählbaren Ingenieurfächer heute deutlich größer als drei, andererseits werden viele der Absolventen vielleicht überhaupt keinen MINT-Beruf wählen. Das wäre nicht schlimm; denn tatsächlich sollte man sogar hoffen, dass viel mehr unserer Abiturienten eine Grundvorstellung von Technik vermittelt werden könnte. Da sie alle in einer stark technik-bestimmten Welt leben werden, kann technisches Grundwissen nur nützlich sein. Umgekehrt könnte fehlendes technisches Verständnis bei der zu erwartenden Konfrontation aller Menschen mit Big Data, Digitalisierung, Künstlicher Intelligenz und Industrie 4.0 bald zu echten Problemen führen.
Glücklicherweise blieb man auf der Tagung nicht bei der Feststellung von Problemen stehen, sondern konnte auch schon viele schöne Ansätze zum Zusammenführen der Ingenieurfächer präsentieren. Beeindruckend war für den Beobachter der Bericht über das Curriculum eines MINT-Oberstufenprofils „Ingenieurwissenschaft“ eines Hamburger technischen Gymnasiums, welches in Entwurf und Umsetzung den Umbau eines Gartenhauses in einen Carport mit regenerativer Energieerzeugung als Leitthema hatte. Hier ließen sich nicht nur alle Ingenieurwissenschaften im Zusammenspiel vermitteln. Im Entwurfsprozess kamen auch jede Menge Physik, Chemie, Mathematik und Informatik in enger Zusammenarbeit miteinander und mit den Ingenieurwissenschaften zum Einsatz, und auch die Beleuchtung wirtschaftlicher Aspekte war nicht vergessen worden. Die Demonstration der Bedeutung von Kenntnissen in allen Fächern muss hier offenbar überhaupt nicht künstlich angestrebt und womöglich in pseudoingenieurwissenschaftlich verpackte Abituraufgaben gestopft werden. Sie ist unmittelbar aus der Sache klar. Dem Besucher wurde bestätigt, was er durch seinen Mathematikunterricht an einer technischen Universität lange vermutet hatte: Studierende, die aus den technischen Gymnasien zum Studium an die Technische Universität kamen, müssen nicht – wie viele der Absolventen „normaler“ Gymnasien und Stadteilschulen – mühsam davon überzeugt werden, dass Mathematik eine sehr praktische Wissenschaft für sie ist. Sie haben dies schon selbst im Technikunterricht gesehen.
Natürlich ist es schwer, technische Beispiele im normalen Mathematik- und Physikunterricht der Sekundarstufe II an „normalen“ Gymnasien und Stadtteilschulen zu verwenden. Bei den genannten Technischen Gymnasien gelingt der Transfer zum Beispiel einfach dadurch, dass der Techniklehrer auch Mathematiklehrer ist und im Technikunterricht bei der Verwendung mathematischer Konstrukte einfach kurz darauf hinweist. Beim CAD-Entwurf einer Wendeltreppe ist die praktische Begegnung mit Sinus und Cosinus natürlich vorgegeben, und bei der Berechnung der Statik ist die halbe Lineare Algebra unmittelbar an Bord. Diese Idealsituation wird sich an den allgemeinen Gymnasien fast nie ergeben. Haben doch viele junge Mathematiklehrer nicht einmal mehr einen Kontakt mit der Physik gehabt.
Ließe sich aber nicht doch vielleicht durch regelmäßige Transfertagung aller MINT-Lehrer (vielleicht sogar auch unter Beteiligung einiger Technik-Lehrer?) viel mehr Verständnis für alle MINT-Fächer organisieren? Vermutlich wären die Abiturienten beim Abitur dann nicht mehr (so sehr) darauf ausgerichtet, Mathematiker, Physiker oder Chemiker zu werden. Sehr wahrscheinlich käme man mit dem Stoff in diesen Fächern auch lang nicht mehr so weit. Wäre es aber nicht trotzdem besser, wenn alle – auch die Liebhaber von Literatur und schönen Künsten unter den jungen Leuten – grob für sich verstanden hätten, dass die MINT-Fächer ihr Leben ganz wesentlich mitbestimmen werden und dass sie durch ein wenig mehr eigenes praktisches MINT-Wissen ihre Entwicklungschancen wesentlich verbessern könnten? Wenn sie etwa verständen, wie und wann sie bei Bankkrediten übervorteilt werden sollen, wenn sie eine Idee davon hätten, wie sie sich mit zu viel Informationspreisgabe über ihre Smartphones in die Hände von Einflüsterern und Manipulatoren begeben, wenn ihnen klar würde, wie sie durch zu wenig MINT-Wissen prädestiniert sind, in der Industrie 4.0 schneller arbeitslos zu werden. Wäre es nicht gut, wenn sie dies wüssten und sich wappnen könnten?
Wäre es nicht besser, wenn alle MINT weniger tief, dafür aber besser vernetzt verständen? Sollte man vielleicht vom Anspruch, in der Schule den Anschluss an die Mathematik der Hochschule zu schaffen, etwas Abstand nehmen und dafür lieber Sorge tragen, dass nicht so furchtbar viele Abiturienten fast überhaupt kein MINT-Verständnis haben? Dass – wie der Berichterstatter selbst noch vor vier Jahren im Unterricht erlebt hat – ca. 25 Prozent der Studienanfänger in den Ingenieurwissenschaften mit Hochschulzugangsberechtigung „Abitur“ massive Probleme bei der Bruchrechnung haben, darf eigentlich in einem Hochtechnologieland wie Deutschland nicht toleriert werden.
Aber würden dann nicht die MINT-Spitzen unter den Schülern ganz vernachlässigt werden? Natürlich brauchen wir sie ganz besonders, um unser Land technologisch nicht zurückfallen zu lassen.
Es sollte eigentlich kein Problem sein, diese jungen Leute durch außerschulische Angebote wesentlich weiter zu bringen, als sie heute durch die Schulen gebracht werden. Bei der Fülle darauf ausgerichteter Engagements der Hochschulen sollte dies – unter anderem durch Hilfe damit befasster Organisationen – leicht organisierbar sein.
Prof. (i. R.) Dr. Wolfgang Mackens
Mitglied des Vorstands
VDI Hamburg
05.01.2018
(Aus Gründen der Lesbarkeit wurde im Text die männliche Form gewählt; die weibliche Form ist selbstverständlich eingeschlossen.)
(Titelbild: ©Technisches Gymnasium Farmsen)